111 Gründe, den Kopf einzusetzen

Neulich wussten wir vor lauter Grummeligkeit nichts anderes mit uns anzufangen, als ein kleines Bändchen zur Hand zu nehmen, das anlässlich der 1000-Jahre-Feierlichkeiten unserer aller Heldenstadt erschienen ist, allerdings der damit verbundenen Hochjubelei eine kritische Perspektive gegenüberzustellen weiß.

Denn schnell zeigte sich: der Sammelband will (berechtigterweise) Spielverderber sein – beziehungsweise wenigstens ein paar Leute dazu anregen, ihren Kopf einzusetzen angesichts all der pompösen Jubelarien (Zu empfehlen sind beispielsweise die Beiträge von Andreas Bischof über den kleinbürgerlichen Hypezig-Hype oder von Philipp Schäfer zum Alltag in einer Leipziger Asylbewerberunterkunft).

Die Saat geht auf

Super, dachten wir, klingt genau nach einem Buch für uns. Also nichts wie reingeblättert. Und siehe da, kaum im Beitrag von René Seyfarth (“‘Mein Leipzig lob’ ich mir – Leipzig diskursiv”) festgelesen, hüpften unsere Herzen höher. Seyfarth thematisiert verschiedene bekannte Leipzig-Erzählungen und weist darauf hin, wie diese zu einem zumindest hinterfragungswürdigen Stadtselbstbild der seit jeher ach so progressiven, freien, weltoffenen und toleranten Bürgergesellschaft beitragen. Unter die Lupe genommen werden zunächst populäre Bilder wie „Heldenstadt“, „Messestadt“,„Universitätsstadt“, „Musikstadt“ und „Buchstadt“. Dann folgt der Teil zur „Sportstadt“ und die für uns entscheidende Stelle des gesamten Buches. Seyfarth schreibt also, *räusper*:

Lokale und überregionale Aufmerksamkeit generiert seit einigen Jahren vor allem der neue Fußballverein RB Leipzig, welcher als unmittelbare Ausgründung des Red Bull-Konzerns einen raschen Aufstieg in der Fußballliga bewältigte. In diesem Zusammenhang wurde insbesondere die Betonung der Fußballtradition in Stellung gegen den Marketing-Hybrid aus Sport und Brause gebracht. Einerseits wird hier, eher untypisch für dominantere Leipzig-Diskurse, Tradition in Opposition zu ökonomischer Macht, repräsentiert durch das Unternehmen Red Bull, gebracht. In diesem Sinn folgt diese Auseinandersetzung eher einem international verwendeten Narrativ, in welchem sich lokale Beharrungskräfte schwer verortbarer, internationaler Finanzmacht zu widersetzen suchen (Schütt 2014). Andererseits kam es recht schnell zu einer lokalen Aneignung des von Kritiker_innen als Retortenverein gescholtenen Clubs, was mit dem ungebremsten Ligaaufstieg nach dem Prinzip ›Der Erfolg gibt ihm recht‹ geschah. Wohlwollend zur Kenntnis genommene Begleitumstände waren einerseits die bessere Auslastung des vormals fast ganzjährig brachliegenden Zentralstadions (jetzt Red Bull Arena) wie auch die familienfreundliche Stadionatmosphäre, welche bei den beiden Traditionsvereinen Lok Leipzig und BSG Chemie aufgrund einer ausdifferenzierten Fankultur (u.a. Ultras, Hooligans) aus bürgerlicher Perspektive nicht im gleichen Maße gegeben war. Entsprechend wendete sich die lokale Berichterstattung von anfänglich abwartender Zurückhaltung zu einer Jubelstimmung, da man dank des Erfolgs Leipzig nun auch auf dem Fußballfeld zu (dem lokalen Selbstverständnis gemäß) angemessener Größe zurückgekehrt sah. Der Blog Zwangsbeglückt dokumentiert und reflektiert kritisch die damit einhergehende lokale wie auch überregionale Dynamik, welche sich aus Leipzigs neuem (zurückgewonnenen?) Fußball-Ruhm ergibt und analysiert die Argumente von Identifikation, Arbeitsstellen und Opferrollen im diskursiven Dunstkreis der Sportstadt (zwangsbeglueckt.wordpress.com), die wiederum an andere Leipzig-Narrative anschlussfähig sind, um den Kreis zu schließen. (S.59–60)

 

mr burns 2

Das tut unseren kleinen narzisstischen Egos natürlich saugut – zu lesen, dass unser notorisches Rumgemecker bei Leuten, die richtige Bücher schreiben, anschlussfähig ist und darüber hinaus innerhalb einer übergreifenden Diskussion zur Selbstbeweihräucherung der eigenen Tollheit Leipzigs verfängt. Gelungener Digital-Analog-Transfer, dachten wir und high-fiveten uns erstmal ne Runde. Seitdem hängen wir satt im Lehnstuhl und schauen unserer Saat beim Wachsen zu.

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